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Zwei Blumenkränze

Eines darf auch gesagt werden: Vorarlberg ist nicht Hawaii. Das heißt, keine weißen Sandstrände, keine aktiven Vulkane und keine um den Hals gehängten Blumenkränze. Aber dafür auch kein professioneller Überschwang und keine touristische Abgebrühtheit. Das alemannische Wesen steht in diesem Landstrich zwar unter ostösterreichischem, sogar mediterranem Einfluss, das heißt, es ist elastischer als sein Ruf, aber die Leute hier versprechen in der Regel nicht mehr, als sie halten können. Eher weniger. Das gilt auch für die Bregenzer.

Zwei Blumenkränze
© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler

In diesem Sinne machen wir hier auf zwei städtische Sehens- oder besser Erlebenswürdigkeiten aufmerksam, die in klassischen Fremdenverkehrsprospekten garantiert nicht vorkommen würden. Es handelt sich um zwei ganz besondere Wege. Der eine führt auf den Pfänder hinauf, der andere am See entlang Richtung Lindau.

© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler

Zuerst das Gschlief. So heißt der kürzeste und wohl anstrengendste Weg, auf dem die Spitze des Bregenzer Hausbergs erreichbar ist. Zumindest der mittlere Teil dieses Pfades ist von derart unverschämter Steilheit, dass sich zumindest die vernünftigen Bregenzer jedes Mal die Frage stellen, warum sie nicht eine angenehmere Route wählen. Aber der Ehrgeiz siegt meistens. Und wie es sich für einen modernen Einheimischen, egal wo auf der Welt, gehört, ist der Blick eher auf die Uhr, das heißt, auf die Kontrolle der eigenen Gesundheit gerichtet als auf die Schönheit des Weges. Dabei machen alle notorischen Gschlief-Geher sich selbst und den anderen etwas über ihre Aufstiegszeiten bis zur Bergstation der Pfänderbahn vor, das ist eine Tatsache. Der Gast hingegen darf die Sache entspannter angehen. Er fährt zum Beispiel mit der Seilbahn hinauf und lässt sich dann mit gutem Schuhwerk und mit offenen Augen für die bizarre Wildheit des Weges heruntertreiben. Außer er möchte es auch einmal empfinden, das Gefühl, den Pfänder, vereint mit den anderen Siegern über den inneren Schweinehund, wirklich bezwungen zu haben.

© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler
© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler

Für die Anstrengung, die mit dem Gang über das »Gschlief« verbunden ist, wird der Wanderer durch außergewöhnliche Blicke entschädigt.

© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler
© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler

Das zweite Geheimnis soll hier über die Pipeline gelüftet werden. Diese Bezeichnung hat sich für die etwa zwei Kilometer lange Uferstrecke zwischen dem Bregenzer Hafen und der Nachbargemeinde Lochau eingebürgert, die im Wesentlichen aus einer schmalen Betonpiste und einem mehr oder weniger schmalen Rasenstreifen besteht, beides eingeklemmt zwischen See und Bahngleis, daneben zu allem Überfluss noch eine stark befahrene Bundesstraße. Und darunter verläuft die namensgebende, heute stillgelegte Pipeline, durch die bis 1997 Erdöl aus dem bayerischen Ingolstadt nach Genua transportiert wurde. Was die Bregenzer besonders an Sonntagen und bei schönem Wetter so zahlreich dorthin treibt, ist dem Gast nur schwer zu vermitteln. Ein möglicher Erklärungsansatz wäre folgender: Die Pipeline ist ein magischer Ort. Und wie an allen magischen Orten lernt man auch dort das Paradoxe, das Widersprüchliche, das in der Welt herrscht, auf selbstverständliche Art zu akzeptieren. Vermutlich liegt es an den Geräuschwelten der Wellen, des Windes und des Straßenverkehrs, die sich hier zu einem akustischen Vakuum gegenseitig neutralisieren. Hat sich dieses Phänomen einmal eingestellt, dehnt sich der Geist plötzlich in alle Richtungen aus und der Gehende versinkt tief in dem, was man die Pipeline-Trance nennen könnte. Befindet man sich in diesem Zustand, dann könnte man irgendwann sogar geneigt sein, den Pfänder für einen aktiven Vulkan, die Pipeline für einen weißen Sandstrand und Vorarlberg doch für Hawaii zu halten.

© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler

Die »Pipeline« liegt direkt neben Straße und Bahnlinie. Doch das kann den Blick nicht vom Horizont ablenken, der hier so weit ist wie nirgends sonst am See.

© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler
© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler

Eine Besonderheit muss hier unbedingt erwähnt werden: Das gesamte Vorarlberger Seeufer ist öffentlich zugänglich.

© Kongresskultur Bregenz / Anja Koehler

»Gschlief« und »Pipeline«. Zwei Wegbezeichnungen, die zunächst nicht nach Empfehlungen klingen. Bei näherer Betrachtung sind beide ein Geschenk.

 

(wm)

Die feinen Unterschiede – Bregenz und Umgebung für neugierige Gäste

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Themenheft „Die feinen Unterschiede – Bregenz und Umgebung für neugierige Gäste“. Das gesamte Heft mit mehr Beiträge über die Bodensee-Region können Sie hier digital durchsehen.
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